Selbstverantwortung, Autonomie und Verbundenheit

Es sagt sich wirklich sehr leicht und wird in vielen Unternehmen optimistisch in Leitbildern beschworen: „Wir erwarten von unseren Führungskräften und Mitarbeitern, dass sie unternehmerische Verantwortung übernehmen.“ Gemeint ist, dass Menschen sich aus eigenem Antrieb und ganz selbstverständlich für die Ziele des Unternehmens einsetzen sollen. Immerhin werden sie dafür bezahlt. Und zwar sollen sie das tun, ohne dass sie dauernd kontrolliert oder angetrieben werden müssen.

Jenseits der Appelle an unternehmerische Verantwortung – Wie können Mitarbeitende und Führungskräfte dazu bewegt werden, sich selbst-verantwortlich für unternehmerische Ziele einzusetzen? Können sie überhaupt dazu bewegt werden? Unter welchen Umständen?

Dieser Wunsch ist verständlich. Die moderne Arbeitswelt ist VUCA – geprägt von volatility, uncertainty, complexity, ambiguity. Angemessene, ausreichend zügige Entscheidungen, Aktionen und Reaktionen in einer VUCA-Welt sind wohl nur mit einem hohen Maß an Selbststeuerung, Dezentralität und Hierarchiefreiheit zu erzielen. Stimmt das? (Oder wie der geschätzte Kollege Josef Beil fragen würde: „Ist das wirklich-wirklich wahr?“) Es lohnt sich, diese Annahme für sich selbst und für die Organisation, in der man Verantwortung trägt, zu überprüfen, denn die Implikationen sind relativ weitreichend. Viele Systeme, die in den letzten Jahrzehnten in Personalabteilungen ersonnen und von dort aus implementiert wurden, folgen letztlich einer Logik der Fremdsteuerung, sind hierarchisch gedacht. Sie dienen dazu, Menschen auf ökonomische Ziele auszurichten, ihren Einsatz, ihre Kraft und Kompetenz zur Erreichung von Zielen verfüg- und nutzbar zu machen: Zielvereinbarungs-, Beurteilungs-, Feedback-, Anreiz-, Arbeitszeit-, Personalentwicklungssysteme und andere Methoden. Dahinter steckt – so begegnet es uns bei uns selbst und unseren Kunden immer wieder - eine tief verwurzelte Management-Illusion: Menschen sind steuerbar. Man muss es nur geschickt genug anstellen.

Selbststeuerung und Selbstorganisation – im Gegensatz zu Fremdsteuerung und hierarchischer Organisation – folgen einer anderen Logik … und bei genauer Betrachtung wohl auch einem anderen Menschenbild.

Grundlegend für Selbststeuerung und Selbstorganisation ist Selbstverantwortung: Wenn wir wollen, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen sich selbst steuert und organisiert, dann müssen wir ihm:ihr zunächst zutrauen und zumuten, eigene Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen zu verantworten. Wenn wir wollen, dass im Rahmen dieser Selbstverantwortlichkeit möglichst viel zum Unternehmen beigetragen wird (Wertbeiträge!), dann müssen wir offen verhandeln: Was sind Ziele und Wege? Was stiftet Wert? Wie kann und will jede:r Einzelne seine:ihre Kraft, Leidenschaft und Kompetenz zum Wohle des Ganzen (und wer bestimmt auf welche Weise, was das ist?) einsetzen? Selbstverantwortung heißt letztlich totale Freiheit bzw. die freiwillige Unterwerfung nur unter selbst gesetzte oder akzeptierte Regeln und Zielsysteme. Alles andere wäre lediglich eine mehr oder weniger gut verbrämte Fremdsteuerung.

Wie ist nun das Zusammenspiel wirklich selbstverantwortlicher Individuen innerhalb eines Unternehmens (oder einer Abteilung, wenn man erst einmal kleiner anfangen möchte) am besten zu „organisieren“? Die Antwort lautet wohl: „Man“ kann das gar nicht „organisieren“. (Dies bedeutet nicht, dass es keine Organisation gibt. Die entsteht allerdings erst durch das Zusammenwirken selbstverantwortlicher Individuen.) Als jemand, der aktuell vielleicht formale oder informelle Macht im Unternehmen hat, kann man – im Rahmen eigener Selbstverantwortung – höchstens Bedingungen schaffen, die das Zusammenspiel zum Nutzen des Ganzen eher fördern.

Sehr wichtig erscheint uns: Damit Selbstverantwortung wirklich zu unternehmerischer Verantwortung führt, darf offene Fremdsteuerung nicht einfach durch subtilere und häufig unbewusste Formen der Machtausübung und Angsterzeugung (=Fremdsteuerung), wie z. B. Gruppendruck, Konformitätszwang, political correctness o. ä. ersetzt werden. Letztlich würden dadurch die angestrebte Agilität, Kreativität, Schnelligkeit, Wagemut und Innovativität doch wieder auf der Strecke bleiben. Selbstverantwortliches Denken und Handeln verdichtet sich dann zu unternehmerischem Denken und Handeln, wenn die Mitglieder der Organisation gleichzeitig autonom sind und sich ihr verbunden fühlen.

Autonomie und Verbundenheit sind untrennbar miteinander verknüpft. Sie sind menschliche Grundbedürfnisse. Ihre spezifische Ausprägung und unsere Fähigkeit dazu ist Teil unserer Persönlichkeit, früh erworben. (vgl. hierzu den sehr erhellenden Vortrag von Gunther Schmidt https://ethik-heute.org/der-mensch-zwischen-autonomie-und-verbundenheit)

Autonomie definieren wir – verkürzt – als die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Selbstregulation und Entscheidungsfreiheit.

Verbundenheit bedeutet – ebenfalls verkürzt –, dass ich die Beziehung zu den anderen um Ihretwillen aufrecht erhalten möchte und ein hohes Maß an Sicherheit habe, dazu zu gehören und nicht vom Ausgestoßen-Werden bedroht zu sein; weil ich so bin, wie ich bin und mich entsprechend verhalte. Weil Wertbeiträge letztlich außer Frage stehen, weil jeder wert-voll aus sich heraus ist. 

Ja, das klingt nicht nur anspruchsvoll und idealistisch, das ist es auch. Es geht hier darum, einmal ungeschminkt die Voraussetzungen echter Selbststeuerung und -organisation aufzuzeigen … um sich dann fragen zu können: Kann dies mein/unser Weg sein? Der Weg lohnt sich in jedem Fall, denn eins ist doch klar: Wenn Autonomie und Verbundenheit in diesem Sinne in einer Organisation gelebt werden, explodiert die Leistung. Dies ist genau das, was in vielen Start-Ups passiert und was etablierte Unternehmen versuchen zu imitieren. Oft ohne Erfolg, weil es ihnen nicht gelingt, die Voraussetzungen für beides herzustellen. Und/oder, weil in ihnen Persönlichkeiten wirken, die ihren Zugang zu Autonomie und Verbundenheit (teilweise) verloren haben.

Organisationen können die Autonomie und Verbundenheit ihrer Mitglieder stärken. Nein, falsch: Die Mächtigen der Organisation können durch ihr Verhalten beides fördern (oder verhindern). Was sie sagen, ist dabei vollkommen unwichtig. Wichtig ist ausschließlich, was sie tun.

Was kann/sollte getan werden? – Die Antworten auf diese Fragen sind eigene Artikel wert und sprengen den Rahmen hier. Wir werden darauf in unserem Blog zurückkommen. Hier erst einmal ein paar Stichworte:

Autonomie stärken: Die Mächtigen kennen ihre eigenen Grenzen und wissen um ihre eigene Beschränktheit. Sie stülpen anderen nicht einfach ihr Werte- und Zielsystem über, sondern lassen Raum für Andersartigkeit und andere Sichtweisen, fördern diese sogar bewusst. Es besteht hohe Bereitschaft und Befähigung zum Konflikt. Konflikte werden früh und kompetent – ggfs. mit Unterstützung – angegangen. Jedem wird geholfen, seinen Platz in der Organisation zu finden, an dem er mit seinen spezifischen Fähigkeiten wirken kann. Es besteht große Bereitschaft und Ermutigung etwas auszuprobieren. …

Verbundenheit stärken: Räume für Begegnungen schaffen, Wertschätzung spüren und großzügig verteilen, den kritisch-wertschätzenden Dialog fördern und ggfs. begleiten lassen, Fehler AUSSCHLIESSLICH als Anlass ansehen, zu wachsen und sich zu entwickeln …

Konsequente Selbststeuerung erfordert – wenn man diesen Gedanken folgen mag – ganz schön radikale Maßnahmen und mächtiges Loslassen :-) Wir bei Janus finden das attraktiv und haben uns auf den Weg gemacht. Martina Goldhorn lässt in ihrem Beitrag einen weiteren Blick durch’s Janus-Schlüsselloch zu und freut sich sehr über Ihre Anmerkungen und Fragen.

Und noch aus einem weiteren Grund ist das Thema für uns bei Janus interessant und bedeutsam: In ihm verbinden sich Persönlichkeitsentwicklung und Unternehmensentwicklung – die beiden Janus-Kernkompetenzen – in nahezu idealer Weise. Das eine geht nicht ohne das andere. Und hiermit ist es uns ziemlich ernst :-)