06.06.2016

Ratlosigkeit als Ressource

„Danke. Besonderen Dank für den Moment der Ratlosigkeit vorhin. Ich glaube, der hat uns wirklich weiter gebracht.“, sagte letzte Woche eine Teilnehmerin bei einer Teamentwicklung zu mir. – Ich erlebe zwar recht häufig Momente der Ratlosigkeit in Teamentwicklungen, Moderationen, Coachings. Selten, eigentlich nie, erfahre ich allerdings besonderen Dank oder Anerkennung dafür.

Früher, als ich noch nicht so erfahren war, noch nicht zahlreiche Teams bei ihrem Gang über ihre Klippen und Abgründe begleitet hatte, habe ich meine Momente der Ratlosigkeit keinesfalls als Ressource erlebt, sie in keiner Weise genossen oder irgendwie gut finden können. Und wenn sich hinterher jemand dafür bedankt hätte, wäre ich mir vielleicht veräppelt vorgekommen.

Letzte Woche, als die Teilnehmerin mit dem offenen Blick dies zu mir sagte, habe ich mich sehr gefreut. Und mich gesehen gefühlt mit meiner Ratlosigkeit, von der ich mittlerweile weiß, dass sie eine Ressource ist. Aber dass die Kunden dies auch sehen (können), das war mir neu.

Ein ratloser Berater – ist das nicht eigentlich ein schlechter Witz?

Was geschieht, wenn ich ratlos bin … und mir selbst und der Gruppe meine Ratlosigkeit eingestehe?

Ich glaube nicht, dass ich heute seltener ratlos bin als früher. Vielleicht bin ich irgendwie anders ratlos, d. h. ich gehe mit den Gruppen weiter in die Probleme, auch in die Beziehungskiste hinein, dorthin, wo ich früher oder später eben ratlos bin. Mit „Beziehungskiste“ meine ich die komplexe Dynamik, mit der Paare, Teams und ganze Organisationen sich mit den besten Absichten und sich sehr im Recht fühlend (um nicht zu sagen: „recht-haberisch) gegenseitig das Leben schwer machen. Vielleicht suche ich sogar unbewusst meine eigene Ratlosigkeit, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass erst dann, wenn ich wirklich rat-los bin, die Heilungskräfte der Gruppe und ihrer Mitglieder zu wirken beginnen. So lange ich derjenige bin, der weiter weiß, verlässt man sich auf mich. Erst, wenn ich nicht mehr weiter weiß, packt die Gruppe wirklich mit an.

Wenn ich ratlos bin, gerate ich in Stress. Das muss erst einmal kein unangenehmer Stress sein, ich spüre dann nur, dass hier eine Grenze ist und dass der weitere Weg noch nicht sichtbar ist. Z. B. kann  es in einem Team, welches schon länger zusammenarbeitet, eine lange Geschichte von gegenseitigen Kränkungen geben, die nicht aufgearbeitet wurden. In der Teamentwicklung fasst man Vertrauen (auch zu mir, als Berater) und beginnt zaghaft, über die Kränkungen zu sprechen und die dazugehörigen Gefühle zu spüren und zu zeigen. Das entspricht meiner professionellen Absicht und ich finde gut, was geschieht. Aber nach kurzer Zeit erstirbt die Bereitschaft zur Öffnung wieder und es breitet sich ein größeres Schweigen in der Gruppe aus, welches ich nicht einordnen kann. Auch meine Fragen führen dann ins Leere. Der Workshop stockt. Das spüren alle. Ich weiß nicht weiter. Hinzu kommt, dass der Chef ungeduldig wird, weil das Team ja so viele Probleme hat, die man in dem Workshop eigentlich (auch) angehen wollte. Der Chef ist gleichzeitig an vielen Kränkungen beteiligt …

In mir beginnt es stärker zu ziehen und zu zerren, das Gefühl kenne ich und es meldet sich – da kann ich so alt werden, wie ich will – eine innere Stimme die anmerkt: „Oh, oh, ob Du das wohl schaffst? Die schauen Dich alle so an, was mach‘ste denn jetzt? Streng Dich an!“ Jetzt wird der Stress unangenehmer. „WAS MACHST DU JETZT NUR?“ In dieser Phase gehört zu meinem Zustand der Ratlosigkeit höchste innere Aktivierung/Aufruhr bei weitgehend äußerer Tatenlosigkeit. Tatsächlich dauert dieser Zustand nur relativ kurz. Gefühlt vergeht eine kleine Unendlichkeit, bevor ich handle.                                                                                                                                                                                                

Was tue ich, wenn ich ratlos bin?

Heute gehe ich meist in 4 Schritten vor:

  1. Schritt: Ratlosigkeit eingestehen. Das ist die halbe Miete. Wenn ich nur aktionistisch und in Sorge herumrödele und nicht bei mir bin, strahle ich das aus. Die dadurch entstehende Verunsicherung der Teilnehmer verstärkt meine Verunsicherung usw. Wenn ich – auch nur kurz – innehalte, atme, mir meine Ratlosigkeit gestehe, liegt die Voraussetzung für den zweiten Schritt vor. Außerdem beruhige ich mich sofort, denn wenn ich mir die Ratlosigkeit bewusst mache, weiß ich auch sofort wieder, dass sie ja eine Ressource ist, mit der ich nun arbeiten kann.

  2. Schritt: Ratlosigkeit thematisieren. Seit ich meine Ratlosigkeit als Ressource erkannt habe, fühle ich mich kompetent und professionell, wenn ich darüber spreche. Ich sage z. B.: „Hm, im Moment weiß ich nicht weiter. Ich bin verwirrt. Mich interessiert, wie Sie die Situation hier und jetzt erleben und möchte dazu eine Runde machen. Hilfreich ist, wenn Sie auch sagenwas die Gruppe Ihrer Ansicht nach nun braucht, wie wir weiter machen sollten.“ Ich gewinne Zeit und bekomme sofort wertvolle Hinweise. Wichtig ist, dass ich die Entscheidung darüber, wie wir weiter machen nicht an die Gruppe delegiere. Mein Job ist und bleibt, für die Gruppe einen Rahmen, ein Geländer, zu bieten, innerhalb dessen und an dem entlang Probleme bearbeitet und Lösungen gefunden werden können. Manchmal sage ich deshalb explizit: „Ich höre mir Ihre Gedanken und Ideen an und entscheide dann, wie wir weiter machen.“ Ich habe den Eindruck, dass das Eingeständnis von Ratlosigkeit nicht nur mich entspannt, sondern schlagartig auch die Gruppe. Ein Stück Leichtigkeit kehrt zurück, man merkt, dass es ja auch ok sein könnte, ratlos zu sein, wenn schon der Berater ratlos ist usw.

  3. Schritt: Pause machen. Fast immer mache ich nun eine Pause. Manchmal explizit, um mich zu beraten, manchmal passt sie aber ohnehin wunderbar in die Dramaturgie. Je nach Verlauf der Runde und Ausmaß meiner Ratlosigkeit habe ich nun mehrere Varianten. Variante 1: Meine Ratlosigkeit ist bereits aufgrund der Runde beendet. Ich weiß, was ein guter nächster Schritt ist. Ich genieße meine Pause. Variante 2: Ich habe eine ungefähre Idee, was nun ansteht und möchte das methodisch noch ausarbeiten. Dazu ziehe ich mich mit einem Flip-Chart aus der Gruppe zurück. Variante 3: Ich schnappe mir den Chef/Auftraggeber (was ich im Zuge der Pausenansage wahrscheinlich bereits angekündigt habe) und befrage ihn nach seiner Sicht, danach, wie er weiter machen möchte usw. Ich signalisieren damit ihm und der Gruppe, dass die Verantwortung für gute weitere Schritte eben nicht nur bei mir liegt, sondern dass alle einen Beitrag leisten können/sollen. Wir beide entscheiden über den nächsten Schritt im Workshop. Damit ist der nächste Schritt auch sein nächster Schritt.

  4. Schritt: Weiter machen. Meine Verwirrung über die Situation kann nach der Pause durchaus noch andauern, meine Unklarheit über den passenden nächsten Schritt ist praktisch allerdings immer verschwunden. Das ist meist auf die guten Ideen der Teilnehmer, gepaart mit meiner Intuition und Erfahrung zurück zu führen. Zunehmend habe ich den Verdacht, dass es sogar gleich-gültig sein könnte, welchen konkreten nächsten Schritt ich mache, solange ich nur vorher ratlos war und dies eingestanden habe. Das eigentliche Thema und mögliche Lösungen bahnen sich nun ihren Weg. Den nächsten Schritt kündige ich nun an  und übernehme dafür die Verantwortung. 

Zusammenfassung
Inhaltliche Ratlosigkeit („Ratschläge sind auch Schläge“), also das Keine-Lösung-Haben für das Problem des Coachees oder Teams, gehört zum professionellen Selbstverständnis von Coaches und Prozessberatern. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Methodische/prozessbezogene Ratlosigkeit, also Verwirrung darüber, wie denn nun weiter gemacht werden könnte, was ein guter nächster Schritt sein könnte, ist eigentlich – zumindest in meinem professionellen Selbstverständnis – nicht vorgesehen. Immerhin werden wir ja dafür bezahlt, dass wir einen Prozess gut begleiten. So gerate ich auch heute noch regelmäßig in Stress, wenn ich nicht weiter weiß und dies kommt relativ häufig vor.
Wenn ich jedoch mir und meinem Gegenüber meine Ratlosigkeit eingestehe, tritt in fast allen Fällen sofortige Entspannung ein. Man lehnt sich innerlich (manchmal auch äußerlich) für einen Moment zurück, atmet tiefer ein und aus, verlangsamt das Geschehen. Die Ratlosigkeit verliert ihren Schrecken. Ich verliere mir selbst gegenüber und in den Augen meines Gegenübers paradoxerweise nicht an Professionalität. Das konnte ich mir früher gar nicht vorstellen.
Eingestandene Ratlosigkeit bewirkt Suchbewegungen bei allen Beteiligten. Sie aktiviert Mitverantwortung bei der Suche nach einem guten Weg. Auch und gerade Teammitglieder, die bislang zurückhaltend waren, beteiligen sich nun wieder. Manchmal wird genau jetzt das verborgene Thema / das eigentliche Problem benannt. Dies induziert fast automatisch den nächsten Schritt.
Vielleicht ist es gar nicht der nächste gute Schritt, um den es in Coachings oder Teamentwicklungsprozessen geht, und wir Prozessberater dürfen durchaus noch viel bescheidener sein in unserem Anspruch an die Wirkmacht unserer ausgefeilten Interventionen? Wenn es darum geht, Selbstverantwortung zu aktivieren, dann könnte das einfache, selbstbewusste, freundliche Eingeständnis von fundierter Ratlosigkeit die mächtigste Intervention überhaupt sein.

Was sind Ihre Erfahrungen und was ist Ihr Umgang mit Ratlosigkeit in Beratungssituationen? – Ich freue mich über Resonanz!

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Dr. Carsten Schäper
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