22.11.2022

#5 Stärkenorientierung

Stärkenorientierung – oft sind wir selbst die größte Hürde!

In unserem fünften Interview unserer Expert:Innenreihe, spricht unsere Kollegin Claudia Wabel darüber, wie Stärkenorientierung gewinnbringend für die eigene Entwicklung eingesetzt werden kann…

Was ist denn eine Schwäche, liebe Claudia?

Etwas, das mit Stärke ganz viel zu tun hat. Stärken und Schwächen befinden sich auf EINEM Kontinuum. Eine Stärke wird zur Schwäche, wenn wir sie übertreiben oder unproduktiv nutzen. Und manches können wir einfach nicht so gut.

Ich liebe diese Definition! Mach‘ ein Beispiel!

Wenn meine Stärke zum Beispiel in der Kommunikation liegt, ich gut erklären kann, ich eloquent und rhetorisch gewandt bin, dann kann es sein, dass – wenn ich es übertreibe - ich andere zu Tode labere, oder ich unterbreche sie dauernd oder finde den Punkt nicht. Besonders dann, wenn ich mir meiner Stärke und der damit verbundenen möglichen Schwäche nicht bewusst bin.

Mach‘ bitte noch ein Beispiel!

Es kann eine ganz große Stärke sein, hohe Macher-Energie zu haben, los zu starten, Dinge anzutriggern, sich und andere in eine hohe Energie zu bringen. Das ist eine tolle Stärke … in manchen Settings, in manchen Kontexten. Und es kann eine Übertreibung sein, wenn ich zu schnell starte, andere überrolle, wenn meine Ungeduld nicht zum Ziel führt.

Es geht immer darum, sich selbst gut genug zu kennen, um Balance zu wahren und nicht zu übertreiben. Sich auf dem Kontinuum bewusst zu positionieren. Und es geht darum, das „Biotop“ zu finden, in dem ich meine Stärken gut einsetzen kann. Ich kenne einige Beispiele aus dem Coaching, wo eine Person unzufrieden war, und als sie das Team gewechselt hat, lief es super.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den Menschen viel leichter fällt, sich mit ihren Schwächen anzunehmen, wenn sie erkennen, dass diese ihre Schwäche unauflösbar mit ihrer Stärke zusammenhängt …

Ja, genau. Schön, oder? Gleichzeitig heißt das alles nicht – und das ist mir wirklich wichtig bei dem ganzen Thema -, dass wir uns vor lauter Stärkenorientierung alle nur noch mit Samthandschuhen anfassen, nur nett zueinander sind und keine Konflikte mehr haben. Schwächen, Fehler, Misslingen dürfen und sollen adressiert werden. Das gelingt allerdings viel besser, wenn wir viel über Stärken miteinander sprechen und uns klar machen, dass Stärke die Schwäche quasi enthält.

Wie findet man eigentlich seine Stärken heraus?

Wenn ich merke, dass es flutscht, bin ich in der Regel in meiner Stärke. Das fühlt sich gar nicht wie Arbeit an. Flow-Erlebnisse zeigen – denke ich – Stärken an. Meine Bedürfnisse und meine Wirkung sind auch gute Hinweise. Wenn ich zum Beispiel ein starkes Bedürfnis nach Verbundenheit habe, werde ich von anderen oft als einfühlsam wahrgenommen. Die resultierende Stärke wäre dann Empathie.

Das gemeine an Stärken ist ja, dass sie sich einem selbst gar nicht so leicht zeigen. Wenn mir etwas besonders leichtfällt, sehe ich das eher nicht als Stärke, weil es ja vermeintlich nichts Besonderes ist. Oder?

Ja, das ist dann nicht leicht zu entdecken. Wenn andere mich bei bestimmten Tätigkeiten allerdings immer wieder um Rat oder Hilfe bitten, zeigt das wahrscheinlich eine Stärke von mir an. Andere, Wohlgesonnene, nach meinen Stärken zu fragen, ist auch eine gute Möglichkeit. Und wenn ich immer wieder für etwas anerkannt werde, dann ist es an der Zeit, dies als eine Stärke von mir zu sehen.

Oft reden die Menschen lieber über Schwächen …

Ja, Teilnehmer:innen und Coachees sind eher hungrig nach Verbesserungspotenzialen. Sie sagen dann „Hey, das mit den Stärken ist ja ganz ok, aber sag‘ mir, wo ich besser werden kann, ich möchte meine Schwächen ausmerzen.“ Es muss ja auch wehtun …

Was ist schlecht daran, Schwächen auszumerzen?

Es gibt sicher Schwachpunkte, um die ich mich kümmern muss, weil sie für meinen Job / meine Rolle unabdingbar sind. Mir geht es um die Haltung sich selbst und anderen gegenüber. Und um die Frage: „Wo macht es Sinn, die meiste Energie reinzustecken?“ Der größte Mehrwert liegt meist darin, die Stärken auszubauen und sie bewusst einzusetzen. Und ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Beteiligten möglichst genau das tun können.

Stärkenorientierung bedeutet wohl auch und gerade, sich der eigenen Schwächen bewusst zu sein, die Schwächen der anderen zu kennen und mit all‘ dem bewusst umzugehen?

Ja, das ist die Sache mit dem Kontinuum von vorhin. Und die entscheidende Frage dabei ist: WIE gehen wir mit Schwächen um. Abwertung bringt nichts, die anderen wegen ihrer Schwächen als Problem zu sehen auch nicht. Jemanden, der sich auf einer Bühne nun mal nicht wohl fühlt, immer wieder mit Präsentationstrainings zu quälen, auch nicht. Dann wird es destruktiv. Weil wir dort, wo unsere vermeintlichen Schwächen sitzen, mit Scham in Kontakt kommen. Das ist für uns alle schwierig.

Da denke ich an Brené Brown und ihren wunderbaren TED-Talk und ihr Buch zum Thema Verletzlichkeit. Siehst Du hier einen Zusammenhang?

Das verbindende Thema ist Mut. Schwäche zu zeigen, über Schwächen zu sprechen, erfordert Mut. Gerade im Business-Kontext. Ich mache mich angreifbar. Verletzlich. Deshalb ist es wichtig, Grenzen zu wahren, sich dem Thema situations- und kontextbezogen zu nähern und in Teams nicht zu grenzenloser Offenheit einzuladen.

Wie unterstützt Du Teams, sich dem Thema Stärkenorientierung zu nähern bzw. damit umzugehen?

Situationsangemessen. Wenn eine Führungskraft zu mir kommt und etwas zum Thema Stärkenorientierung machen möchte, dann klären wir natürlich erst einmal, was dahintersteckt. Wenn es im Team viele Konflikte gibt, dann fänden es die Leute befremdlich, wenn ich sofort auf Stärken zusteuere und sie sich nun gegenseitig toll finden sollen. Da steht wahrscheinlich erst einmal etwas anderes an. Und es geht auch später nie darum, sich nur toll zu finden. Es geht darum, alles auf die Straße zu bringen, was wir als Team zur Verfügung haben und es nutzbar zu machen. Und wenn alle spüren, dass sie ihre Stärken einbringen können, werden alle zufriedener. Wenn wir auf den Stärken aufbauen, unsere Stärken ergänzen, wird es leichter. Es geht also um Leistung und Zufriedenheit gleichzeitig.

Was machen Teams anders, die wirklich stärkenorientiert arbeiten?

Sie sind viel effizienter. Weil in ihnen Teammitglieder zum Beispiel schnell sagen: „Lass‘ mich das machen, ich kann das besser / am besten.“ Sie haben sich Vielfalt und Diversity nicht nur auf die Fahne geschrieben, sondern sie heißen jemanden der anders ist wirklich willkommen. Wir finden Vielfalt ja alle ganz toll … bis sie passiert! Und: Sie probieren mehr aus, fallen auf die Nase, lernen. Ihre Rollen sind fluider. Feedbackregeln werden beherrscht :-).

Was ganz Anderes: Was siehst Du als Deine eigenen Stärken?

Ich bin schnell in ehrlichem Kontakt mit Menschen. Kontakt, der auch Irritation und Reibung zulässt. Ich beobachte gut und kann Potenziale bei Menschen und Teams gut sehen und benennen. Ich finde mich ideenreich :-).

Mir fiele noch mehr zu Dir ein … Es ist schön, jemandem zuzuhören, der über seine Stärken spricht. Ist das immer so?

Jein, das ist kulturell und je nach Persönlichkeit unterschiedlich. In den USA, wo ich beruflich sozialisiert bin, da lernst Du ganz früh, dass es wichtig ist, sich in seinen Stärken darzustellen und da gibt es auch viel Stärkengeschwafel … Das veröffentlichst Du aber nicht!

Doch!

… und in eher gruppenorientierten Kulturen bekommt der stärkenorientierte Ansatz einen anderen Fokus. Dort sind Teamleistung und Teamstärke wichtiger als die Stärken des Einzelnen. Und: wir müssen ja nicht immer über (individuelle) Stärken sprechen :-)

Vielen Dank für das Interview, liebe Claudia!

Weiterempfehlen


Claudia Wabel
T +49 8095 87338-0
claudia.wabel@janusteam.de