Narzissmus (1): Me, myself and I
Vor rund 20 Jahren machte ein Bändchen die Runde: „Die Neurosen der Chefs“. Darin beschreibt das Autorenduo Jürgen Hesse und Hans Christian Schader anschaulich die Macken und Marotten von Vorgesetzten. Fast zwanzig Jahre später ist das Buch aktuell wie eh und je.
Mancher spricht bereits vom „Zeitalter des Narzissmus“ und meint damit die Ich-Fokussierung und Selbstverliebtheit vieler Zeitgenossen. Unter Narzissmus wird im Allgemeinen das „Sich-selbst-Gefallen“, die Hingabe an das eigene Spiegelbild verstanden. Als Namenspate steht der Jüngling Narkissos, der laut der altgriechischen Sage nicht mehr von seinem eigenen Spiegelbild im Wasser lassen konnte, bis es ein böses Ende mit ihm nahm.
Aus Sicht des Coaches bezeichnet Narzissmus die Selbstwertregulation, die jeder Mensch für sich aufrechterhalten muss. Menschen wollen sich wertvoll und von anderen geachtet fühlen; sie strengen sich an, um dies zu erreichen. Sowohl Individuen, als auch Gruppen als Teil eines größeren Ganzen, haben ein andauerndes Bedürfnis gesehen, gewürdigt, anerkannt und gelobt zu werden. Diese Steigerung des eigenen Selbstwertes durch Streben nach Bestätigung, Anerkennung und Geliebt-werden ist ein menschliches Grundbedürfnis.
Damit beschreibt der Begriff „Narzissmus“ zunächst nichts Gutes und nichts Schlechtes. Ein so genannter gesunder Narzissmus geht einher mit einem stabilen Selbstwertgefühl: der Mensch kennt seine Stärken – und weiß um seine Schwächen. Er ist sich seiner selbst bewusst, er weiß, was er braucht, auch in schwierigen Situationen hat er Zugang zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen. Und er ist bereit, wenn Dinge falsch laufen, eigene Anteile wahrzunehmen und daraus zu lernen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass er trotzdem wertvoll, geliebt, geachtet und anerkannt ist.
Kritisch wird es, wenn Narzissmus stark ausgeprägt ist und keine Reflexion über den eigenen Seelenzustand stattfindet: Eine narzisstische Störung zeichnet sich durch eine starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls aus, die nach außen nicht als solche sichtbar wird. Der:Die Betroffene verbirgt Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse hinter einer Fassade aus Selbstsicherheit, Leistung, Perfektionismus, Attraktivität und scheinbarer Unabhängigkeit. Statt „echt“ zu sein, versucht der:die Narzisst:in, ein Ideal von sich zu erfüllen, das immer ein Tick besser ist, als die anderen. Triebfeder für das Verfolgen dieses Ideals sind seine starken Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle, die hinter der Maske von Perfektion und Grandiosität verschwinden. Narzisst:innen sind extrem von der Bewunderung anderer abhängig, da sie meist früh gelernt haben, dass sie nur mit „ideal sein“ Anerkennung bekommen („echt-sein“ war unerwünscht). Bleibt die Bewunderung durch andere aus oder wird sie gar durch Kritik ersetzt, zeigt sich die zerstörerische Kraft durch Arroganz, Abwertung, Kontaktentzug bis hin zur Kündigung des „Selbstwert-Bedrohers“.
Gruppen und Einzelpersonen tun gut daran, sich vor Menschen mit stark ausgeprägtem Narzissmus zu schützen. Doch das ist leichter gesagt, als getan, denn der:die Narzisst:in ist attraktiv – und gleichermaßen erschreckend. Als Meister:in der Täuschung zieht er:sie andere mit dem verführerischen Glanz seines:ihres Erfolgs, seiner:ihrer Intelligenz und seinem:ihrem scheinbar makellosen Selbstvertrauen in seinen:ihren Bann. Und steigt häufig weit auf der Karriereleiter nach oben.
Geübte Narzisst:innen sind gut beieinander und wirken selbstsicher, häufig sogar liebenswürdig witzig. Doch Achtung: Ohne Vorwarnung ziehen sie ihrem Gegenüber den Teppich unter den Füßen weg und hinterlassen Kränkung, Tränen, Sorgen und Enttäuschung. Für Narzisst:innen ist immer weniger das wichtig, was sie wollen und fühlen (wahres Selbst), sondern das, was sie darstellen müssen (Ideal) - und das, was sie unter allen Umständen verbergen wollen (Minderwertigkeit). Um hier zu reüssieren, ist ihnen (fast) jedes Mittel recht: Sie missbrauchen andere, indem sie übermäßige und unangemessene Anerkennung und Aufmerksamkeit einfordern oder sie für eigene Fehler und Schwächen verantwortlich machen. Alles mit dem Ziel, die eigene Unzulänglichkeit nicht spüren zu müssen.
Wer die Wesenszüge und Verhaltensmuster von Narzisst:innen kennt, kann sich schützen. Oder - wenn er:sie sich selbst wiedererkennt - an sich arbeiten. Ausgeprägter Narzissmus ist ein häufiges Phänomen in der Unternehmenswelt. Es lohnt sich sehr, ihn zu bearbeiten, denn die innere und äußere Not, die er hervorruft, kostet die Beteiligten viel.